Wie du erkennst, wo du dich selber belügst - dem Moment der Wahrheit ins Auge blicken
- Eduard Kaiser

- 10. Sept.
- 9 Min. Lesezeit

Es gibt einen Moment, fast unmerklich, der sich in deinem Alltag einschleicht. Ein flüchtiger Gedanke, ein schnell beiseite geschobenes Unbehagen, ein vages Gefühl, das du nicht näher untersuchen willst.
In diesem Moment triffst du eine Wahl: der Wahrheit ins Auge sehen oder sie bequem ummanteln. Meistens wählst du, ohne es zu merken, die zweite Option.
Selbsttäuschung ist die kunstvollste aller Täuschungen, denn der Betrogene und der Betrüger wohnen in derselben Seele. Sie ist kein Zeichen von Schwäche oder Charakterfehler – sie ist menschlich.
Sie dient oft als Schutzmechanismus, ein Puffer zwischen dir und Empfindungen, die zu schmerzhaft, zu überwältigend oder zu beängstigend erscheinen.
Doch dieser Puffer, so trügerisch bequem er sein mag, wird mit der Zeit zur Barriere. Eine Barriere zwischen dem Leben, das du führst, und dem Leben, das in dir schlummert und darauf wartet, gelebt zu werden.
Dies ist eine Einladung, diese Barriere zu untersuchen. Nicht mit harscher Kritik oder selbstauferlegtem Druck, sondern mit neugieriger Achtsamkeit. Eine Reise zu den Orten in dir, an denen die Wahrheit nur darauf wartet, endlich gehört zu werden.
Der innere Kompass: Wenn sich etwas nicht stimmig anfühlt
Dein Körper, dein Gefühlsleben, deine Intuition – sie besitzen eine eingebaute Wahrheitserkennung. Diese Erkennung meldet sich nicht immer mit lauten Alarmglocken. Oft ist es viel subtiler: ein flaues Gefühl in der Magengrube, wenn du "Ja" sagst, obwohl du "Nein" meinst.
Eine leichte Anspannung in den Schultern, wenn du eine Ausrede vorbringst. Ein unbewusstes Seufzen, wenn du dich in einer Situation wiederfindest, die deinen inneren Werten widerspricht.
Diese körperlichen und emotionalen Signale sind deine ersten und treuesten Wegweiser. Sie sind der Rauch, der dir verrät, dass irgendwo ein Feuer der Unwahrheit brennt.
Wir haben gelernt, diese Signale zu übergehen, zu betäuben, weguzurationalisieren. Wir schieben sie auf Müdigkeit, Stress oder dass wir einfach "überreagieren".
Doch in Wirklichkeit reagieren wir genau richtig. Wir reagieren auf einen inneren Konflikt, auf die Diskrepanz zwischen dem, was wir fühlen und wissen, und dem, was wir nach außen darstellen oder uns selbst eingestehen.
Frage dich: Wann hast du das letzte Mal dieses flaue Gefühl ignoriert? Was war die Konsequenz? In welchen Situationen spürst du häufig einen Widerstand,ein Zögern, ein Unbehagen?
Wenn du ganz still wirst und deinen Körper fragst: "Wo fühlt sich etwas nicht stimmig an?" – was ist die Antwort?
Die Geschichte, die du immer wieder erzählst
Wir alle erschaffen Narrative über unser Leben. Geschichten darüber, warum wir sind, wie wir sind, warum uns bestimmte Dinge passieren und warum wir bestimmte Entscheidungen treffen. Diese Geschichten geben uns Struktur und Sinn.
Doch manchmal werden diese Geschichten zu festgefahrenen Scripts, die wir unhinterfragt wiederholen, obwohl sie uns nicht mehr dienen – wenn sie es je taten.
Achte auf die Formulierungen, die du immer wieder benutzt:
· "Bei mir ist das eben so, dass..."
· "Ich bin halt derjenige, der immer..."
· "In meiner Familie sind wir alle..."
· "Das klappt bei mir sowieso nie."
Diese Sätze sind oft Verteidigungsmechanismen. Sie frieren eine bestimmte Version von dir ein und entbinden dich von der Verantwortung, sie zu verändern. Sie sind bequeme Schubladen, in die du dich selbst legst.
Die Wahrheit hinter der Geschichte ist oft, dass du Angst hast, was passieren könnte, wenn du aus dieser Schublade ausbrichst. Angst davor, zu scheitern, anders zu sein, zu viel zu verlieren oder den Erwartungen anderer nicht mehr zu entsprechen.
Frage dich: Welche Geschichte über dich selbst erzählst du am häufigsten? Dient sie dir wirklich oder hält sie dich nur gefangen? Was wäre die gegenteilige Geschichte?
Kannst du auch nur einen kleinen Beweis dafür finden, dass diese gegenteilige Geschichte wahr sein könnte? Wenn diese Geschichte nicht wahr wäre...wer wärst du dann?
Die Rechtfertigungsmaschinerie

Der Verstand ist ein Meister der Logik – und ein ebenso großer Meister der Scheinlogik, wenn es darum geht, unangenehme Wahrheiten zu vermeiden. Wir rechtfertigen, erklären, relativieren und komplizieren Dinge, bis sie ihr klares, oft schmerzhaft simples Gesicht verloren haben.
Die Rechtfertigung zeigt sich in "aber", "eigentlich" und "vielleicht":
· "Eigentlich möchte ich das tun, aber ich habe keine Zeit." (Die Wahrheit: Es ist keine Priorität.)
· "Ich sollte mich mehr bewegen, vielleicht nächste Woche." (Die Wahrheit: Ich habe keine echte Absicht, es zu tun.)
· "Er hat mich zwar verletzt, aber er meinte es sicher nicht so." (Die Wahrheit: Sein Verhalten war verletzend, und ich will mir das nicht eingestehen.)
Jede Rechtfertigung ist ein kleines Pflaster über einer Wunde der Wahrheit. Sie erlaubt dir, weiterzugehen, ohne die Verletzung behandeln zu müssen. Doch unter dem Pflaster kann nichts heilen. Es wird nur vergraben.
Die Kunst ist, deine eigenen Rechtfertigungen zu belauschen. Höre dir selbst zu, wenn du sprichst. Wenn du ein "aber" hörst, halte inne.
Frage dich: Was versuche ich hier gerade nicht zu sehen? Was wäre die einfache, unverblümte Wahrheit, ohne den schützenden Umschlag der Rechtfertigung?
Frage dich: Was ist die häufigste Rechtfertigung,die du in letzter Zeit benutzt hast? Wenn du dieses "aber" streichst – welcher einfache, unangenehme Satz bleibt dann übrig?
Wovor schützt dich diese Rechtfertigung? Vor Enttäuschung? Vor Angst? Vor Konfrontation?
Der blinde Fleck deiner Werte
Du hast Werte. Jeder Mensch hat sie. Integrität, Freiheit, Familie, Wahrhaftigkeit, Abenteuer, Sicherheit – was auch immer dir wichtig ist.
Die Selbsttäuschung lauert oft in der Lücke zwischen dem, was du denkst, dass deine Werte sind, und dem, wie du tatsächlich lebst.
Du sagst vielleicht, dir sei "Freiheit" wichtig, aber du triffst aus Angst vor Unsicherheit seit Jahren keine Entscheidung, die dich wirklich befreien würde. Du sagst, "Authentizität" sei dir ein Anliegen, aber du verbiegst dich in sozialen Situationen, um dazuzugehören.
Dieser Widerspruch erzeugt ein unterschwelliges Rauschen der Unzufriedenheit, das wir oft externalisieren: "Der Job ist langweilig." "Die Menschen sind oberflächlich." Selten fragen wir:
"Inwieweit erlaube ich diesem Job, mich langweilig zu machen? Inwieweit verhalte ich mich oberflächlich?"
Deine wahren Werte offenbaren sich nicht in dem, was du sagst, sondern in dem, wofür du deine Zeit, deine Energie und deine Aufmerksamkeit einsetzt. Schaue auf deinen Kalender und deine Kontoauszüge.
Das ist eine schonungslose und doch sehr klare Darstellung dessen, was dir wirklich wichtig ist. Wenn dort eine Diskrepanz zu deinen idealisierten Werten klafft, ist das ein fruchtbarer Boden für Selbsttäuschung.
Frage dich: Wofür opferst du regelmäßig Zeit und Energie? Entspricht das dem, was du für wichtig erklärst?
Wenn ein neutraler Beobachter dein Leben eine Woche lang studieren würde – welche Werte würde er dir zuschreiben? Welcher eine Wert, wenn du ihn wirklich leben würdest, würde dein Leben am radikalsten verändern?
Die Projektion: Was du in anderen siehst
Das, was wir an anderen am stärksten ablehnen oder bewundern, ist sehr oft ein Spiegel unseres eigenen verleugneten Selbst. Dieser Mechanismus der Projektion ist einer der mächtigsten und tiefsten Wege, uns selbst etwas vorzumachen.
Du regst dich maßlos über die "Arroganz" eines Kollegen auf? Frage dich, ob es in dir einen Teil gibt, der auch arrogant sein möchte, es sich aber nicht erlaubt – oder den du fürchtest.
Du bewunderst die "Sorglosigkeit" einer Freundin? Vielleicht sehnst du dich zutiefst danach, mehr Leichtigkeit zuzulassen, unterdrückst diesen Wunsch aber zugunsten von Pflichtbewusstsein.
Die Welt da draußen ist deine Leinwand, auf die du all das projizierst, was du in dir selbst nicht sehen, anerkennen oder integrieren willst. Die Kritik an anderen ist sehr oft ein unterdrückter Schrei an uns selbst.
Wenn wir uns auf die Fehler anderer konzentrieren, müssen wir uns nicht mit unseren eigenen beschäftigen. Es ist ein Ablenkungsmanöver ersten Grades.
Frage dich: Welche Eigenschaft bei anderen löst in dir die stärkste emotionale Reaktion aus(ob positiv oder negativ)?
Kannst du eine winzige Spur dieser Eigenschaft auch in dir entdecken?Vielleicht in einer ganz anderen Situation? Was passiert, wenn du diese Eigenschaft nicht verurteilst, sondern neugierig in dir willkommen heißt?
Die Angst, die die Wahrheit übertönt

Am Ende geht fast jede Selbsttäuschung auf eine tiefsitzende Angst zurück. Angst ist nicht dein Peiniger; sie ist ein uralter Beschützer, der versucht, dich vor Schmerz zu bewahren. Doch sein Methodenkatalog ist begrenzt und oft überholt. Er flüstert dir zu: "Lüge dich an, das ist sicherer."
· Angst vor dem Urteil: Wir lügen uns an, um das Bild aufrechtzuerhalten, von dem wir glauben, dass andere es von uns erwarten. "Alles ist gut!" sagen wir, wenn wir am Abgrund stehen.
· Angst vor dem Scheitern: Wir reden uns ein, dass wir etwas ohnehin nicht können, um den Versuch und das potentielle Scheitern zu vermeiden. So bleiben wir sicher in unserer Komfortzone.
· Angst vor der Veränderung: Die Wahrheit zuzulassen, würde oft ein Erdbeben in unserem Leben auslösen. Sie würde verlangen, dass wir Grenzen setzen, Gewohnheiten ändern, Beziehungen beenden oder neue beginnen. Das ist ungemein anstrengend. Also wählen wir die bequeme Lüge, die Stabilität vortäuscht.
· Angst, nicht gut genug zu sein: Der größte Betrug, den wir an uns selbst begehen, ist der Glaube, dass wir nicht genug sind. Nicht liebenswert genug, nicht fähig genug, nicht würdig genug. Diese fundamentale Lüge färbt alles, was wir tun und denken.
Die Arbeit besteht nicht darin, die Angst zu besiegen, sondern sie als den ängstlichen Wächter zu erkennen, der sie ist. Ihn zu würdigen für seinen Dienst und ihm dann sanft zu sagen: "Ich übernehme jetzt. Deine Methode wird nicht mehr gebraucht."
Frage dich: Welche konkrete Angst steckt hinter deiner häufigsten Selbsttäuschung? Was ist das Schlimmste, das passieren könnte, wenn du dieser Angst ins Auge siehst? Und wie wahrscheinlich ist dieses Schlimmste wirklich? Was könnte das Beste sein, das passieren könnte?
Der Weg zurück zur Wahrheit

Die Enthüllung der Selbsttäuschung ist kein Akt der Selbstgeißelung. Es ist ein Akt der intensiven Selbstliebe. Es ist der Moment, in dem du dich entscheidest, dass du es wert bist, in der Wahrheit zu leben, egal wie unbequem sie zunächst sein mag. Hier sind Wege, dorthin zu gelangen:
1. Übe dich in freundlicher Neugier.
Werde zum Forscher deiner eigenen Innenwelt. Stelle Fragen, ohne sofort Antworten zu verlangen. Beobachte ohne Urteil.
Anstatt "Warum belüge ich mich schon wieder?" frage: "Interessant, dass ich das wieder tue. Ich frage mich, welches Bedürfnis dahintersteckt?" Dieser kleine Perspektivwechsel verändert alles. Er verwandelt eine innerliche Prügelstrafe in ein Gespräch mit einem interessierten Freund.
2. Führe ein Tagebuch der unbequemen Wahrheiten.
Nimm ein schönes Heft und schreibe jeden Tag einen Satz auf, der sich wahr anfühlt, auch wenn er wehtut. Er muss nicht weltbewegend sein. "Heute fühlte ich mich einsam." "Ich habe Angst vor dem Meeting morgen." "Ich beneide meinen Freund um seinen Mut."
Das regelmäßige Aufschreiben entlarvt die Lügen, indem es der Wahrheit einen sicheren Raum gibt. Es ist, als würdest du deiner Seele signalisieren: "Hier darfst du sein, wie du wirklich bist."
3. Suche den Spiegel in vertrauensvollen
Beziehungen. Wir sind Meister darin, unsere eigenen blinden Flecken zu umschiffen. Ein Mensch, der uns liebt und dem wir vertauen, kann oft mit einem sanften Hinweis Licht in diese dunklen Ecken bringen.
Öffne dich und bitte um ehrliches Feedback: "Wo siehst du mich im Widerstreit mit mir selbst? Wo nehme ich dich vielleicht nicht ganz wahrhaftig war?" Höre zu, ohne dich zu verteidigen. Es geht nicht um Recht oder Unrecht, sondern um Perspektive.
4. Meditiere über die einfache Frage: "Was ist jetzt gerade wahr?"
Setze dich für einige Minuten hin. Atme. Und stelle dir immer wieder diese eine Frage. Was ist in diesem Moment wahr? Nicht, was sein sollte, was sein könnte oder was war. Sondern was ist. Die Temperatur im Raum.
Das Gefühl des Atems in deiner Nase. Das Gewicht deines Körpers auf dem Stuhl. Dann gehe tiefer: Welches Gefühl ist jetzt wahr? Welcher Gedanke? Diese Übung verankert dich in der gegenwärtigen Realität und entzieht den spekulierenden, angstgetriebenen Geschichten des Verstands den Boden.
5. Feiere kleine Wahrheitsmomente.
Wenn du den Mut hast, eine kleine Selbsttäuschung loszulassen und eine unbequeme Wahrheit zuzulassen, erkenne das an. Das ist eine Heldentat. Du musst nicht sofort das ganze Leben umkrempeln.
Es reicht, dir innerlich zuzunicken: "Ja. Das ist wahr. Ich sehe es." Dieses bewusste Anerkennen stärkt den Muskel der Wahrhaftigkeit. Mit der Zeit wird er kräftiger und übernimmt die Führung.
Das Geschenk der ehrlichen Seele
Die Reise von der Täuschung zur Wahrheit ist die wichtigste Reise, die du jemals unternehmen wirst. Sie ist nicht immer einfach, aber sie ist unendlich lohnend. Mit jeder Schicht der Illusion, die du abträgst, kommst du dir selbst einen Schritt näher.
Du findest nicht nur die Wahrheit über deine Fehler und Schwächen, sondern auch über deine ungeahnte Stärke, deine tiefe Weisheit und deine grenzenlose Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden.
Eine ehrliche Seele ist keine perfekte Seele. Sie ist eine befreite Seele. Sie muss sich nicht mehr verstecken, nichts mehr vortäuschen, keine Energie mehr in die Aufrechterhaltung einer Fassade stecken.
Diese freiwerdende Energie steht dir dann für das zur Verfügung, wofür du wirklich hier bist: zu lieben, zu wachsen, zu erschaffen und dieses einzigartige Menschsein in all seiner Fülle zu erfahren.
Du beginnst nicht morgen. Du beginnst jetzt. Mit dieser einen Frage:
Wo, in diesem genauesten Moment, belügst du dich vielleicht selbst?
Und... kannst du es zulassen, einfach nur wahr zu sein?
Alles Liebe auf deinem Weg,
Eduard
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